Start Familie Spielkumpan und Verbündeter, Konkurrent und Lehrmeister: Was man von Geschwistern lernen kann

Spielkumpan und Verbündeter, Konkurrent und Lehrmeister: Was man von Geschwistern lernen kann

„Papa hat mal zu mir gesagt: Was die Großen dir vormachen, musst du gar nicht erst nachmachen!“ Das war das Erste, was meiner Schwester zu der Frage einfiel, was man von Geschwistern lernen könne. Und wir wissen beide, was er damit gemeint hat – nämlich das ganze Spektrum zwischen Erbse in die Nase stecken und sich im Partykeller in den Schirmständer übergeben. Dass wir Kinder abgesehen davon viel voneinander gelernt haben, was uns den Weg ins erwachsene Leben geebnet hat, gab und gibt unseren Eltern ein gutes Gefühl. Teamfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Verständnis: Ein paar meiner besten Lehrmeisterinnen und -meister hatten die Kinderzimmertüren direkt neben meiner.

Geschwister ticken oft ganz unterschiedlich. Die eine geht sofort an die Decke, ein anderer nimmt‘s gelassen. Die eine springt gerne ins kalte Wasser, ein anderer geht erst einmal spazierendenken. Glücklicherweise lässt sich grundsätzlich aus guten und nicht guten Vorbildern eine Lehre ziehen.

Es wird einem buchstäblich vor Augen geführt, dass das eigene Handeln (oder Nichthandeln) Konsequenzen hat. Man lernt, zusammenzuhalten und dichtzuhalten. Wichtige Eigenschaften in vielen Lebenslagen! „Bitte verpetz mich nicht!“, hatte ich meine Schwester angefleht, als ich im Begriff war, mich unerlaubterweise zu einer Party rauszuschleichen. „Okay. Für 11 Mark.“ Auf gewisse Weise hat mich ihre Antwort beeindruckt. Und wir lachen bis heute darüber. Machen wir uns nichts vor.

Alle Geschwisterkonstellationen machen auch schwierige Phasen durch, inklusive Streit, Missgunst und Neid. Aber das ist eine der besten Schulen, wenn es darum geht, sich im Verzeihen zu üben, gönnen zu können und abzugeben. Nicht ohne Grund heißt es, brüderlich zu teilen.

Die Kleineren schauen zu den Größeren auf und eifern ihnen nach. So erfährt der Wortschatz ganz eigene Wachstumsschübe, und es kommt Tempo in den Wechsel von LEGO Duplo© zu LEGO Star Wars©. Die Älteren nehmen sogar Einfluss auf die musikalische Früherziehung. Ich erinnere mich noch an die Madonna-Schallplatte meines Bruders, die ich wie ein Heiligtum in den Händen hielt, während im Hintergrund noch meine Rolf-Zuckowski-Kassette lief. Parallel emanzipierte ich mich aus der Latzhose heraus Richtung Markenjeans, in der meine älteste Schwester so verdammt gut aussah. Blöd nur, dass man die Diesel-Jeans erst dann erbt, wenn sie a) verbeult und geflickt, und b) längst nicht mehr so angesagt ist wie noch zwei Jahre zuvor. So oder so formten sich in diesen Jahren mein eigener Wille und mein eigener Geschmack – gerade auch in Abgrenzung zu meinen Geschwistern.

Unter Geschwistern entwickelt man eine eigene Sprache, mit der man an den Eltern und Lehrern zumindest eine Weile vorbeikommunizieren kann. Jugendwörter des Jahres werden in der Tagesschau ja erst vorgetragen, wenn Jugendliche längst mit neuen Begriffen um sich werfen. Lol! Dieser Verständigungscode ist Teil jener schützenden Geborgenheit, die man gemeinsam aufbaut, selbst wenn man sich am liebsten gegenseitig ärgert. 11 Mark hin oder her, nehmen einen die Eltern ins Gericht, haut man die große Schwester nicht in die Pfanne! Und ganz nebenbei erhält man eine der wichtigsten Lektionen: wo die Grenzen sind und welche Grenzüberschreitung sich lohnt. Vielleicht noch wichtiger: wie man sich nicht erwischen lässt. Und während der Fokus beim Familienrat auf den Großen liegt, kommt man als Nesthäkchen womöglich ganz unbemerkt mit seinen Grenzübertritten durch. 

„Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass mein Bruder mir gezeigt hat, wie man die Stäbe herausdrehen und aus dem Gitterbett ausbrechen kann“, erzählt mir mein Patensohn. „Aber natürlich kann man auch Selbstvertrauen, Gerechtigkeit, Dankbarkeit und vieles mehr lernen!“ Er und sein Bruder haben weder gemeinsame Hobbys noch Interessen und doch verbindet sie mehr als ihnen heute bewusst sein mag. 

Während sich nun also die Jüngeren bei den Älteren abgucken, wie man auf Kommando rülpst und Spaghetti mit einer Gabel aufwickelt, wie man die Schaltung am Fahrrad benutzt oder das Vertrauen seiner Eltern zurückgewinnt, lernen die Älteren von den Jüngeren, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen. Denn die braucht es, wenn man sich seiner Vorbildfunktion bewusst wird. Außerdem kann man sich in der Pubertät von den Jüngeren eine längst vergessene Gelassenheit abgucken. Wenn man auf dem Selbstfindungstrip ist, erinnern einen kleine Schwestern und Brüder daran, dass man eben nicht alleine ist und Familie nicht cringe (zum Fremdschämen) sein muss. 

„Ich fühle mich beschützt durch meinen Bruder – allein durch die Gewissheit, dass er sofort da wäre, wenn ich ihn brauche“, verrät mir der Bruder meines Mannes. Und es ist genau das, was ich unseren Kindern erkläre, wenn sie sich mal wieder gegenseitig zum Mond schießen möchten. 

Politische Ansichten, Interessensschwerpunkte, Werte, Prioritäten – und Vertrauen: Auch unter den Puzzlestücken meiner eigenen Persönlichkeit finden sich Teile von allen meinen vier Geschwistern. Manche funkeln, manche musste man mit sanfter Gewalt in die entsprechende Lücke drücken. Aber das Gesamtbild funktioniert.

Foto: David-W- / photocase.de

Tina Ott
Autorin Tina Ott ist seit vielen Jahren für die verschiedenen Magazine des Rönne Verlags im Einsatz – und immer wieder begeistert, was für interessanten Menschen man bei Reportagen oder Interviews in unserer Region begegnet.