Start Interview Eine Kindheit in … Syrien

Eine Kindheit in … Syrien

Die Welt wird immer kleiner, wir reisen in kürzester Zeit in andere Kontinente und Menschen aus anderen Ländern kommen zu uns. Und doch weiß man oft wenig darüber, wie Familien woanders leben. Wir fragen in dieser Reihe Menschen, wie sie aufgewachsen sind und was sie als Kind erlebt haben.

Ziad Zankello ist 35 Jahre alt, in Aleppo in Nord-Syrien geboren und aufgewachsen und hat an der Aleppo-Universität Kunst studiert. Aktuell macht er eine Ausbildung zum Medien­gestalter im Rönne Verlag in Kiel und lebt in Rendsburg.

Meine Kindheit war für mich nicht ungewöhnlich. Damals sah ich sie, wie die meisten meiner Generation, als normal an. Es war Spiel, Spaß, Computerspiele, Schule und natürlich die Lieblingszeit aller Kinder, die den Kindersendungen gewidmete einzige bzw. sozusagen Waisefernsehstunde, auf die wir sehnsüchtig warteten, um Mowgli, den Dschungeljungen, Captain Tsubasa und anderen Helden zu begegnen.

Aber meine Schulzeit war nicht so unbeschwert. Wer das Leben des Pionier-Genosse nicht erlebte, kann es sich nicht vorstellen. Das Wort Pionier-Genosse ist ein Begriff, der einen Grundschüler bezeichnet.

In Syrien beginnt die politische Beeinflussung der Kinder schon in der Schule. In Syrien ist die Regierungspartei die Arabische Sozialistische Baath-Partei. Das Wort Al-Ba’ath bedeutet Wiedererweckung. Das Parteileben der Bürger*innen beginnt mit dem Eintritt in die erste Klasse. Man ist Mitglied der Baath Pionier-Organisation (Vorhut-Organisation auf Arabisch) während der gesamten Primärstufe, also bis zur sechsten Klasse. Ab der siebten Klasse ist man Mitglied der Organisation Revolutionsjugend und bleibt dort weitere sechs Jahre.

Unsere Schule fing um halb acht an und begann mit dem Fahnenappell. Wir mussten laut die Ziele der Partei aufsagen und die Nationalhymne oder Parteilieder singen. Dabei gab es immer Vorsprecher, das waren Lehrer oder Schüler, die eine laute Stimme hatten.

Eine Schulklasse wurde als Einheit bezeichnet. So wie ich mich erinnere, rückte der Einheitsführer oder der sogenannte Hauptgefreite der Klasse ein oder zwei Schritte vor, um seine Klasse vorzustellen. Beim anschließenden Militärgruß wurde mit dem Fuß aufgestampft und die Hand auf Höhe der Augenbraue gehoben. Dann begann das Aufsagen der Parteiziele. Der Vorsprecher sagte ein Wort und die Schüler ergänzten den Rest. Zum Beispiel: „Eine arabische Nation“… Wir alle: „mit einer ewigen Botschaft“. Oder „Unsere Ziele“ … Wir: „Einheit, Freiheit, Sozialismus“. Vorsprecher: „Unser ewiger Führer“ … Wir: „Der Hauptsekretär Hafez Al-Assad“. Ohne dass wir die Bedeutung die­ser Worte wirklich verstanden, lernten wir alles auswendig und wiederholten es wie Papageien.

Niemand traute sich, nicht an den Appellen teilzunehmen. Ich erinnere mich, dass einmal ein Schüler später als der Rest seiner Klassenkameraden die Hand hob. Er wurde nach vorne geholt und auf dem Schulhof vor allen mit 10 Schlägen auf die Hände bestraft. Sein Haar war blond, zur Seite gekämmt, seine Haut blass. Nach den Schlägen war sein Gesicht rot, sein Pony hing auf seine Stirn herunter und bedeckte seine Augen, die tränten, obwohl er keinen Laut von sich gab. Das war für uns kein ungewohnter Anblick, ähnliche Szenen wiederholten sich oft, auf dem Schulhof, im Klassenzimmer oder auf den Fluren. Einige Schüler weinten, während der Grüßungszeremonie, aber schweigend, da niemand es wagte, seine Stimme über den Klang der Nationalhymne oder der Parteiparolen zu erheben. Uns wurde immer gesagt: Wenn eine Nadel auf den Boden fällt, muss das Geräusch zu hören sein. Körperliche Strafen waren üblich, sei es für nichtgemachte Hausaufgaben, für das Stören des Unterrichts oder das Nichteinhalten der Kleiderordnung.
Eine andere übliche Strafe bestand darin, dass man bis zum Ende des Unterrichts mit dem Gesicht zur Wand stehen musste, beide Hände und ein Bein angehoben. Wer nicht so lange auf einem Bein stehen konnte, wurde mit dem Stock geschlagen.

Kollektivstrafen, die die ganze Klasse bekam, waren nicht ganz so schlimm. Einerseits fühlte man sich nicht allein, andererseits war die Anzahl der Stockschläge geringer. Weil die Schläge sehr schmerzhaft waren, hielten wir uns nach der Bestrafung am Metall unserer Stühle fest, um die Hände abzukühlen, damit die Schmerzen schneller nachließen. Eigentlich war das Schlagen in Schulen verboten, aber die Lehrer*innen hielten sich nicht daran. Die Lehrer*innnen hatte alle einen eigenen Stock. Die Lehrer wählten die Stöcke sorgfältig aus, einige von ihnen gingen zum Schreiner, um einen besonders guten Stock aus einer besonders geeigneten Holzsorte zu bekommen. Andere fertigten selbst einen Stock aus dickem Bambus und befestigten am Ende eine Kugel, damit der Schlag schmerzhafter wurde.

All das hielt uns aber nicht von Streichen und Unfug machen ab, weder in noch außerhalb der Schule. Am Nachmittag haben wir Hausaufgaben gemacht, mit den Nachbarjungs gespielt und im Sommer auch an Aktivitäten wie Schwimmen, Mal-, Basketball- und Fußballkursen teilgenommen. Für mich war der Urlaub am Meer mit der Familie immer etwas ganz Besonderes. Dorthin sind wir jedes Jahr gefahren – bis 2010, ein Jahr vor dem Ausbruch der Revolution.