Start Kindheit Eine Kindheit in … Norwegen

Eine Kindheit in … Norwegen

Die Welt wird immer kleiner, wir reisen in kürzester Zeit in andere Kontinente und Menschen aus anderen Ländern kommen zu uns. Und doch weiß man oft wenig darüber, wie Familien woanders leben. Wir fragen in dieser Reihe Menschen, wie sie aufgewachsen sind und was sie als Kind erlebt haben.

Sissel Ree Schjønsby lebt in Oslo in Norwegen. Sie ist Kunsthistorikerin, spezia­lisiert auf Textildesign, und betreibt mit einer Kollegin das Beratungsinstitut „kunstcentralen“ in Oslo. Geboren wurde sie vor 80 Jahren im kältesten Winter des Krieges. Sie hat drei Töchter und fünf Enkelkinder.

Wenn ich an meine frühe Kindheit zurückdenke, war es ein einfacheres Leben als heute: weniger Waren in den Läden, weniger Geld, weniger Wohlstand. Aber das ist nicht das Wichtigste aus meiner Kindheit. Woran ich mich am liebsten erinnere, sind die Winter. In meiner Kindheit waren die Winter sehr kalt, viel kälter als heute. Wir, die wir außerhalb der Städte wohnten, nutzten dann die Skier im Alltag zur Fortbewegung. Manchmal, wenn es nachts geschneit hatte und die Straßen nicht geräumt waren, fuhr ich auf Skiern zur Schule. Nachmittags und abends waren wir dann mit unseren Skiern draußen und haben im Dunkeln im Schnee gespielt. Es gab keine beleuchteten Pisten, aber der Schnee machte es hell genug, und manchmal half uns auch das Mondlicht. Unsere Winterkleidung war nicht so wie heute. Das meiste war aus Wolle. Wir blieben vor allem warm, wenn wir uns bewegten, was wir gerne taten. Aber nach einer Weile waren unsere Beine und Finger eiskalt. Dann taumelten wir nach Hause mit Sachen voller Schneeklumpen, die an der Wolle hängen geblieben waren. Es dauerte sehr lange diese Kleidung zu trocknen!

Ich bin an einem großen See aufgewachsen, der im Winter regelmäßig zufror. Dann konnten wir mit dem Auto über das Eis fahren, was viel schneller war als mit der Fähre, die wir sonst benutzten, um unsere Großeltern zu besuchen. Die Eisstraße wurde mit kleinen Ästen markiert, damit wir auch im Dunkeln auf dem Weg blieben. Ein Mann hatte die Aufgabe die Dicke des Eises zu messen und der Zeitung zu melden, wenn das Eis dick genug für die schweren Autos war. Aber im Frühling, wenn die Sonne wärmer wurde und das Eis zu schmelzen begann, wurde es beängstigender. Ich erinnere mich an ein Mal, als wir nach Hause fuhren und das Eis schon weicher und dünner geworden war. Mein Vater sagte, wir sollten mit geöffneten Autotüren fahren und aus dem Auto springen, wenn er „Spring“ rief, falls das Auto ins Eis einbrach. Glücklicherweise ist das nie passiert. Ich glaube nicht, dass heute jemand so fahren dürfte!

Am Ende eines langen Winters, zur Osterzeit, gehen wir in Norwegen in die Berge, um noch einmal mehr Winter zu erleben. Dann sind die Tage schon länger und wir können bei Licht ausgedehnte Skitouren unternehmen. Die beste Tour, die ich erinnere, war mit meinem Großvater allein zu seiner kleinen Hütte in den Bergen. Ich war wahrscheinlich 10 oder 12 Jahre alt, und es war eine große Ehre! Es war ein langer Weg auf Skiern, fand ich. Auch mussten wir alles, was wir an Essen und Kleidung brauchten, auf unseren Rücken tragen. Als wir ankamen war die Hütte eiskalt, aber sie war klein, sodass sie sich schnell erwärmte. Großvater und ich saßen am Kamin und er erzählte mir von seiner Kindheit und von früheren Touren in die Berge. Das war sehr gemütlich! Tagsüber sind wir Ski gefahren. Unser Essen war einfach, oft Haferflocken mit Zucker. Das große Glück war eine halbe Orange, die Großvater heimlich in seinem Rucksack hatte! Mein Großvater war wahrscheinlich etwas zu spartanisch, aber ich liebte ihn.

Während ich dies schreibe, wird mir klar, wie lange ich gelebt habe. Die Welt hat sich sehr verändert. Und die Welt ist wärmer geworden. Ich vermisse die kalten Winter.