Start Erziehung Kontrolle ist gut. Vertrauen ist besser.

Kontrolle ist gut. Vertrauen ist besser.

Es liest sich mitunter irritierend: Die Smartwatch für „Teenager ab 5 Jahren“ bietet Eltern eine „umfassende Analyse der Schlafqualität“ ihres Kindes. Sie verfolgt seine zurückgelegten Schritte, nennt die dabei verbrannten Kalorien und erinnert das Kind daran, Wasser zu trinken. Ein anderer Hersteller bewirbt die Kamera seiner Kinder-Smartwatch damit, dass sich über den Weitwinkel besonders gut Familiengruppenchats für den Austausch „kleinerer Geheimnisse mit den Eltern“ eröffnen ließen. Bei einem dritten Anbieter erhält das Kind für je 1.000 zurückgelegte Schritte Coins, also Wertmarken, die es im Shop des Anbieters für Spiele oder Bücher einlösen „oder sogar für gute Zwecke“ spenden kann. Man stelle sich den „fünfjährigen Teenager“ vor, der erst dreimal um den Sportplatz rennt und danach medienkompetent seine Coins für eine gute Sache spendet. Die Motivation, loszulaufen, haben der Junge oder das Mädchen übrigens dank der „regelmäßigen Bewegungskampagnen“, die „in Zusammenarbeit mit „renommierten Unternehmen wie Paramount, Warner Bros., Universal Pictures und Netflix“ entstanden sind. Doch genug geschmunzelt!

Smartwatches gehören heute zum Lebensalltag, bei Erwachsenen, bei Jugendlichen – und oft auch bei Kindern. In jedem zweiten Haushalt in Deutschland, in dem junge Menschen aufwachsen, gibt es mittlerweile Wearables. Das geht aus der aktuellen JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs) hervor, der seit 25 Jahren den Medienalltag von Jugendlichen in Deutschland untersucht. Fast jede:r dritte Jugendliche zwischen zwölf und 19 Jahren verfügt demnach über eine eigene Smartwatch. Es gibt sie in den unterschiedlichsten Designs, mit nur wenigen bis etlichen Funktionen. Allen gemein ist: Sie ermöglichen ihrem Träger oder ihrer Trägerin mit anderen zu kommunizieren. Und das macht sie bei Eltern jüngerer Kinder, die noch kein eigenes Handy besitzen, attraktiv.

„Ich wollte eine Möglichkeit haben, mit meinem Sohn zu kommunizieren, wenn er alleine unterwegs ist“, erzählt Hannah, Mutter eines Zehnjährigen. Die Uhr trägt er seit einem Jahr. Mit der Frage der Anschaffung hat sich Hannah bereits deutlich früher beschäftigt. „Das begann, als Luke anfing, Wege und Orte allein erkunden zu wollen. Also, alleine zum Freund gehen. Oder mit dem Freund gemeinsam zum Sportplatz laufen und dort Fußball spielen. Ich weiß, andere Leute sind da entspannter. Mir aber war es wichtig, dass ich ihn jederzeit erreichen kann und im Zweifel weiß, wo sich das Kind gerade befindet.“ Letzteres ermöglichen die Uhren anhand der integrierten Tracking-Funktion. Viele Anbieter werben auch mit der Möglichkeit, sogenannte Sicherheitszonen einzurichten: „Sobald die Kids diese verlassen, erhalten Sie eine Benachrichtigung auf Ihrem Handy“, heißt es zum Beispiel in der Beschreibung der Xplora X6. Wie gut das Tracking ist, darüber wird seit Jahren auf Elternseite debattiert, teilweise sehr emotional. Für die einen bedeutet es Sicherheit und Freiraum, für die anderen steht es für Überwachung und mangelndes Vertrauen ins Kind.

Keine Sicherheit ohne Kommunikation

Torsten Krause ist Politik- und Kinderrechtswissenschaftler und arbeitet bei der Stiftung Digitale Chancen als Referent im Projekt „Kinderschutz und Kinderrechte in der digitalen Welt“. Er kennt die Diskussion und sieht die Vor- und Nachteile beider Perspektiven. Für ihn ist das Wichtigste das Gespräch auf Augenhöhe: „Eltern und Kind sollten sich gemeinsam darüber austauschen, welche Zwecke und Ziele mit der Smartwatch oder dem Smartphone erreicht werden sollen. Sinnvoll ist es auch darüber zu sprechen, was die Alternative wäre, wenn das besprochene Ziel nicht erreicht werden kann. Eine intelligente Uhr oder ein Smartphone kann dem Kind Sicherheit vermitteln, weil es weiß, damit immer schnell die Eltern kontaktieren zu können. Für diesen Fall sollte aber auch geklärt werden, wie und an wen sich das Kind wenden kann, wenn diese nicht erreichbar sind, weil sie vielleicht gerade in einer wichtigen beruflichen Beratung sind oder keinen Empfang haben. Ist der Umgang mit einer solchen Situation nicht besprochen, wird aus dem Sicherheitsgefühl ganz schnell eine Ohnmacht des Kindes, die zu Verängstigungen führen kann. Aber auch auf Seiten der Eltern steigt schnell der Blutdruck, wenn sie anhand der Lokalverfolgung feststellen, dass das Kind vom vorgegebenen Weg abweicht. Sie können in dem Moment nicht wissen, dass das Kind vielleicht den Fußweg in der Parallelstraße nutzen muss, weil auf dem verabredeten Weg ein Kran aufgestellt wird.“

„Ruhig Blut“ sagt man beiläufig – aber es fällt dann oft doch schwerer als gedacht. Schulen, vor allem Grundschulen, können ein Lied davon singen. „Während der gesamten Schulzeit sind Mobiltelefone bzw. Smartwatches mit gleichgestellten Funktionsmöglichkeiten nicht sichtbar, nicht hörbar und ausgeschaltet von den Schülerinnen und Schülern aufzubewahren und eine Nutzung nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Lehrkraft gestattet“, heißt es im Schreiben einer Grundschule aus dem vergangenen Jahr. Grundschulbetriebe leiden, wenn wieder einmal aufgeregte Väter oder Mütter im Sekretariat anrufen, weil sich der Nachwuchs nicht wie verabredet gemeldet und verkündet hat, dass er bei der Schule angekommen ist. Vergessen wurde, dass Schulen sich bei den Erziehungsberechtigten melden, wenn sie ein Grundschulkind vermissen. Oder wenn besorgte Eltern auf den SOS-Anruf der Uhr reagieren – versehentlich ausgelöst und gar nicht bemerkt vom Kind. „Wir haben mit Luke die Absprache getroffen, dass wir uns zurückmelden, wenn der SOS-Anruf zwei- oder dreimal abgeschickt wird, vorher nicht“, berichtet Hannah. Ist ihr Sohn in der Schule, läuft die Uhr im sogenannten „Schulmodus“. Dann funktioniert sie wie eine normale Armbanduhr, nach Unterrichtsschluss schaltet sie sich wieder in den Modus, der auch Anrufe, GPS-Tracker etc. ermöglicht.

Apps sammeln Informationen 

Hannah wollte für Luke eine Uhr, die unauffällig ist, gut zu tragen und ohne zu viele Apps. Diese benötige das Kind noch nicht, dachte sie, außerdem werde es dadurch abgelenkt. Viele Eltern hingegen begrüßen die vielen Funktionen. Was ist richtig, was falsch? „Smartwatches können die Entwicklung eines Kindes fördern, wenn sie bewusst dafür eingesetzt werden, das Erkennen und Verstehen bestimmter Handlungen und Prozesse zu unterstützen. So könnten Kinder gut feststellen, dass sie mehr Kalorien verbrauchen, wenn sie das Treppenhaus statt des Aufzugs nutzen. Auch können solche Wearables Kindern Sicherheit vermitteln, wenn der Weg zur Schule erstmals ohne Eltern zurückgelegt werden soll. Um jedoch festzustellen, dass das Herz schneller schlägt, wenn Sport getrieben wird, ist keine Smartwatch notwendig“, sagt Torsten Krause. Und: Je mehr Apps aktiviert sind, umso mehr Daten werden gesammelt.

Die Stiftung Digitale Chancen ist Mitglied des Forschungsverbundes „InviDas“ der Gesellschaft für Informatik, Garmin Würzburg GmbH, RWTH Aachen, Stiftung Digitale Chancen, Universität Bremen und Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zwischen Frühjahr 2020 und Frühjahr 2023 entwickelten die Projektpartner eine digitale Plattform, die aufzeigt, welche personenbezogenen Daten von Smart Wearables wie Fitnesstrackern oder eben Smartwatches gesammelt werden – und wie die Datenschutzeinstellungen angepasst werden können. Denn, so Krause, nur wenige Nutzer*innen lesen und verstehen die Datenschutzerklärungen ihrer Geräte, weil sie langwierig und schwierig verfasst sind. Dadurch nehmen sie mitunter ihre Rechte zum Widerspruch der Datenerhebung und -verarbeitung nicht wahr. Aber „Eltern tragen die Verantwortung dafür, die Daten ihrer Kinder hinreichend zu schützen, bis diese selbst dafür verantwortlich sind.“ Das Schutzrecht erstreckt sich gemäß der VN-Kinderrechtskonvention bis zum 18. Lebensjahr des Kindes. Kritisch ist, „dass die gesammelten Daten in der Regel auf dem jeweiligen Gerät, im Zweifel aber auch auf dem Server des Anbietenden nicht hinreichend geschützt sind und somit Unberechtigte den Zugriff darauf erhalten können. Diese verfügen dann über einen sehr sensiblen Einblick in das Leben der Nutzenden. Mit der Nutzung einer Smartwatch verfolgte Schutz- und Sicherheitsinteressen der Eltern gegenüber ihrem Kind könnten dadurch ad absurdum geführt werden.“

Hannah ist sich dieser Situation bewusst. Sie arbeitet im IT-Bereich eines großen Unternehmens. Bei der Auswahl der Smartwatch für ihren Sohn hat sie darauf geachtet, dass der Server des Herstellers in Deutschland steht. „Ein Datenmissbrauch kann immer vorkommen“, sagt sie. „Aber in Deutschland haben wir strikte Datenschutzvorgaben und IT-Richtlinien. Und das gibt mir ein besseres Sicherheitsgefühl.“

Die Uhr als Unterstützung im Alltagsmanagement

Das Sicherheitsgefühl – da sind wir wieder. Es ist ein Spagat zwischen der elterlichen Aufsichtspflicht und dem Forschergeist des Kindes, zwischen den Kinderrechten auf Schutz und auf Privatsphäre. Das war auch früher so, in der analogen Welt. Mit den digitalen Möglichkeiten und Gefahren ist es nur noch weiter gefächert. „Damit das Schutzrecht nicht zu Lasten der kindlichen Privatsphäre geht“, rät Krause, „gilt es, in der Familie darüber zu sprechen, welche Funktionen aus welchen Gründen genutzt werden. Das Nachverfolgen von Wegen des Kindes ohne dessen Wissen sollte ebenso tabu sein, wie das Mithören oder Mitlesen der Kommunikation des Kindes, wenn dieses damit nicht einverstanden ist.“

Hannah und Luke finden den GPS-Tracker ihrer Uhr beide gut. Schon oft konnte Hannah im Homeoffice das Mittagessen vorbereiten, wenn sie sah, dass Luke gleich da sein wird. Und Luke zeigt seiner Mutter ab und an abends, wo er am Tag überall gewesen ist. Aber nun auf der weiterführenden Schule drängen neue Themen in den Vordergrund. Die Uhr hat für ihn vor allem die Funktion, seinen Freund anzurufen – für den schnellen Hausaufgaben-Check oder die Frage, ob man sich treffen wolle. In der Klasse haben sehr viele Smartphones; es gibt Klassen-Whatsapp-Gruppen, und die Schule kommuniziert mit den Schüler*innen tagtäglich über die schulinterne Plattform. Das digitale Leben, es findet statt. Ein Handy für Luke ist bereits bestellt.

Carola Weyers

Weiterführende Infos:

Foto: MORTAZZA / Adobe Stock