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Das Recht auf Geheimnisse

Mein Achtjähriger möchte alles wissen. Also nicht unbedingt Fakten, aber alles Zwischenmenschliche. Bei beinahe jedem Gespräch, dem er zwar beiwohnt, das ihn aber eigentlich nicht betrifft, fragt er nach: Worüber reden wir, wen meinen wir, was tun wir morgen, was hat Oma gesagt? Er ist der neugierigste kleine Junge, der mir je begegnet ist. Aber Neugier ist nur ein Teilgrund für sein Nachfragen. Denn er ist nicht nur neugierig, er ist auch ein kleiner Gemütlichkeitsbär. Er hat es gerne warm und behaglich. Wenn das Wetter schön, dass Essen lecker und die Menschen nett sind, dann ist er überglücklich und alles andere nicht so wichtig. Wenn es regnet und er Hunger hat, ist alles furchtbar. Mit seinen Fragen nimmt mein Sohn also auch immer den Ungemütlichkeitshorizont in den Blick. Kommt da etwas auf ihn zu? Droht etwa Ungemach? Seine Umgebung auf etwaige Geheimnisse abzuklopfen ist für ihn eine Art Gemütlichkeitsversicherung. Denn schlimmer als Ungemütlichkeiten aller Art sind Ungemütlichkeiten, mit denen man nicht gerechnet hat. Wenn es nach meinem Gemütlichkeitsbären geht, sollte es keine Geheimnisse geben. Aber. Aber er liebt positive Überraschungen. Und sein Selbstbewusstsein zieht er nicht zuletzt auch aus der Möglichkeit, Dinge vor seinen Eltern und anderen verheimlichen zu können. Vor mittlerweile fast zwei Jahrzehnten sind meine Lebenskomplizin und ich darin übereingekommen, dass es in unserer Familie das Recht auf Geheimnisse geben sollte. Alle sollten auch Dinge für sich behalten dürfen, ohne dass andere Familienmitglieder dies als Angriff auf sich oder die innerfamiliären Beziehungen werten. 

„Alle Beziehungen von Menschen untereinander beruhen selbstverständlich darauf, dass sie etwas voneinander wissen“, schrieb der Soziologe Georg Simmel vor über 100 Jahren. Um anschließend festzustellen, dass sie eben auch darauf beruhen, dass sie etwas voneinander nicht wissen. Wir alle leben in Wissenskreisen und sind darauf angewiesen, dass diese Kreise zwar durchlässig, aber getrennt voneinander sind. Es ist gut, dass wir jemanden, der sich als vertrauenswürdig erwiesen hat, näher an uns und unsere Geheimnisse heranziehen. Es ist aber auch unumgänglich, dass wir Geheimnisdifferenzierung betreiben. Sie sollten über mich nicht genauso viel wissen wie meine Bekannten, meine Familie, meine Lebenskomplizin. Was mir in meinem engsten Kreis Wärme und Trost spendet, weil ich mich verstanden und aufgehoben fühle, entblößt und verletzt mich in einem weiteren Kreis. Das Geheimnis ist also persönlichkeitsbildend. Und zwar auch im engsten Kreis. Selbst in größtmöglicher Nähe setzen sich die Persönlichkeiten zutiefst geliebter Menschen für uns nur aus Fragmenten zusammen. Ich werde meine Kinder nie ganz verstehen und nie alles von ihnen wissen. Und sie nicht von mir. Das tut weh, ist aber richtig und wichtig. Das gilt selbst für Dinge, die wir nur geheim wähnen. So haben meine Lebenskomplizin und ich zum Beispiel eine ziemlich gute Vorstellung davon, welches Kind für welche Katastrophen verantwortlich ist. Wir wissen nicht alles, aber mehr als sie denken. Und lassen es stehen. Die bemalte Wand. Das zerbrochene Glas. Die verschlafene Schulstunde. Denn es erwächst keine Nähe, keine Liebe daraus, den Kindern das zu entreißen und sie zu entlarven. Die Liebesbeziehungen meiner Teenagerkinder gehen mich in dem Maße etwas an, wie sie es wollen. Und wenn ich darüber zufällig mehr weiß, (be)lasse ich es bei der geheimnisvollen Person, die sie diesbezüglich sein wollen. 

Am Ende geht es darum, dass sie sich angenommen und aufgehoben fühlen. Gerade weil es Geheimnisse gibt, die so furchtbar sind, dass man als Eltern nur auf Kinder hoffen kann, die sich im Fall der Fälle anvertrauen, muss das Recht auf Geheimnis gewahrt bleiben. Denn es ist das Recht auf das Setzen von Grenzen und das Abstecken des ureigenen, höchstpersönlichen Bereichs. Das Recht auf Autonomie. Das Recht auf sich selbst.

Foto:  Annie Spratt auf Unsplash

Nils Pickert
Nils Pickert ist vierfacher ­Vater, Journalist und ­Feminist. Jeden Monat lässt er uns in seiner Kolumne an seiner Gedankenwelt teilhaben.