Start Kolumne Letzter Sommer oder: Wie soll das alles werden?

Letzter Sommer oder: Wie soll das alles werden?

Es ist der letzte Sommer, bevor sich meine älteste Tochter allein auf den Weg macht. Sie hat die Schule überstanden, das Abitur in der Tasche und Ende Juli wird sie achtzehn. Dann bricht sie in ihr eigenes Abenteuer auf. Es wird nicht einfach für uns werden, sich als Familie danach neu zu organisieren. Seit knapp sieben Jahren sind wir zu sechst. Es waren sieben gute Jahre. Zwischen Pandemie, Umzügen, Jobwechseln und einigen anderen mal mehr, mal weniger erfreulichen Überraschungen sind wir einander immer Heimat gewesen. Und wir hatten unglaublich viel Spaß miteinander. Ich weiß natürlich, dass das ein bisschen merkwürdig klingt. Schließlich ist meine Große ab Herbst nicht aus der Welt. Wir werden einander nicht ein letztes Mal winken und dann ward sie nie mehr gesehen. Das ist kein Ende, sondern eine Transformation. Wenn auch eine zugegebenermaßen ziemlich große. Denn es ist ja nicht nur so, dass meine Motte dann nicht mehr mit mir zusammen wohnt. Mein Krümelchen. Die Lebenskomplizin wohnt dann auch nicht mehr mit ihrem Pancake zusammen und ihre drei kleinen Geschwister nicht mehr mit ihrer großen Schwester. Mein großer Sohn findet das zwar „gar nicht süß“ (keine Ahnung, wirklich nicht, in bin ein mittelalter Sack, der mit den Begrifflichkeiten nicht mehr Schritt halten kann), geht damit aber eher zukunftsorientiert um: Er plant es ihr gleichzutun und beide überlegen sich, ob sie dann nicht gemeinsam irgendwo studieren könnten. 

Für die beiden Kurzen wird es allerdings alles andere als einfach. Sie sind sechs und acht Jahre alt und meine Große ist für sie ein zentraler Bezugspunkt ihres Alltagslebens. Von ihr haben sie Malen, Zeichnen, einen vernünftigen Musikgeschmack und Backen gelernt. Außerdem die Wichtigkeit von Spaziergängen. Wenn man sehr aufgebracht, traurig oder besorgt ist, macht man einen Spaziergang mit der großen Schwester – danach ist immer alles sehr viel besser. In Vorbereitung auf diese Kolumne habe ich ein bisschen recherchiert, was es zum Thema „Was macht es eigentlich mit jüngeren Geschwistern, wenn der oder die Älteste auszieht?“ so für Texte gibt. Erstaunlich wenig, wie ich feststellen musste. Darunter gar keine von Eltern. Stattdessen lese ich von einem 14-jährigen Dennis, den beim Gedanken daran, dass seine 19-jährige Schwester bald auszieht „fast zerreißt“. Oder von einer Lisa Marie, die sich Sorgen macht, wie alles werden soll, weil ihr großer Bruder doch immer an ihrer Seite war. Ja genau: Wie soll das alles werden?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es auch die Aufgabe von meiner Lebenskomplizin und mir sein wird, die Geschwisterbeziehung weiter zu fördern und zu ermöglichen. Früher sind wir häufiger mal aus dem Zimmer gegangen oder haben uns taub gestellt, wenn die Kinder sich gegenseitig ihre Geheimnisse erzählt, sich miteinander gegen uns verschworen oder über uns geflucht haben. In Zukunft werden wir die Kurzen wohl schon auch mal zu ihrer großen Schwester transportieren müssen. Zu Bekuschelungszwecken. Um ihr Dinge erzählen zu können, die uns überhaupt nichts angehen, weil sie nur in eine Geschwisterbeziehung gehören. Am besten auf langen Spaziergängen. 

Aber bis dahin haben wir noch einen Sommer. Einen letzten Sommer gemeinsam am Meer. Mit Vorlesen, Kochen, Ausflügen und Sonnenuntergängen. Mit nächtlichen Küchengesprächen darüber, wer der neue David Bowie ist und was man grundsätzlich von Liebe und Chips mit Trüffelgeschmack zu halten hat.

Vielleicht wird es in der Zukunft noch andere Momente wie diese geben, aber die werden von noch längerer Hand und gegen einen noch größeren Termindruck geplant werden müssen. Sie ergeben sich nicht mehr wie von selbst. Dafür aber vielleicht ganz neue, die ich mir bislang nicht vorstellen konnte. 

„Das ist meine neue Wohnung, kommt doch rein.“ – „Ich nehm die Kleinen übers Wochenende mit zu mir, sie sagen ihr nervt.“ – „Papa, schick mir nochmal das Pestorezept, heute kommen ein paar Leute.“ Ich glaube, es wird gut.

Foto: Armin Staudt / photocase.de

Nils Pickert
Nils Pickert ist vierfacher ­Vater, Journalist und ­Feminist. Jeden Monat lässt er uns in seiner Kolumne an seiner Gedankenwelt teilhaben.