Start Erziehung Die Wahrheit über den Weihnachtsmann

Die Wahrheit über den Weihnachtsmann

Alle Jahre wieder lügen Eltern ihre Kinder an – harmlose Flunkerei oder traumatische Täuschung?

Traditionell besinnen wir uns zur Weihnachtszeit darauf, was wirklich wichtig ist im Leben, welche Tugenden wir pflegen und an unsere Kinder weitergeben wollen. Wenn Genügsamkeit es ausgerechnet an Weihnachten auch nicht immer leicht haben mag, ehrlich und verantwortungsvoll zu sein, sich in Demut und Dankbarkeit zu üben, dafür schafft die festliche Stimmung – rein theoretisch – ideale Rahmenbedingungen. Gutes Stichwort: „Wenn das Skateboard vom Weihnachtsmann ist, wieso soll ich mich dann bei Opa Rudi bedanken?!“ Immerhin: In Mamas Ratlosigkeit mischt sich irgendetwas zwischen Stolz und Erleichterung in Anbetracht dieser kognitiven Leistung. Um Zeit für wohlüberlegte Antworten zu gewinnen, wird man später Knödel und Rotkohl extra gut durchkauen, denn der Nachwuchs hakt nach: „Wie kriegt der Weihnachtsmann seinen Bauch denn durch den Schornstein? Außerdem haben wir ja nicht mal einen! Und wie schafft er das alles in einer Nacht? In meiner Klasse sind doch schon 29 Kinder!“

Nur um sicherzugehen: Ob Weihnachtsmann, Santa Claus oder Väterchen Frost – sie allesamt sind fiktive Figuren. Schuldgefühle, weil man die Kinder bewusst in einem Irrglauben lässt, muss man in diesem Fall bestimmt nicht haben. Denn um den dritten Geburtstag herum erklimmen die Kinder eine neue Entwicklungsstufe. In dieser sogenannten magischen Phase steht das Kind im Mittelpunkt seines Handelns. Die Perspektive ist immer die eigene. Einen Unterschied zwischen Realität und Fiktion auszumachen fällt noch schwer. Und kann sich das Kind etwas selbst nicht erklären, liefert die magische Logik passende Antworten. Wenn der Storch kleine Schwestern bringt, dann bringt auch der Weihnachtsmann die Geschenke. Ob diese Phase mit sechs oder erst mit neun endet – wichtig ist sie. Doch keine Sorge: Selbst wenn Eltern von vornherein die Wahrheit über den Weihnachtsmann sagen, wird die Fantasie des Kindes an anderer Stelle wundersame Blüten treiben.

Sofern die Kinder nicht von allein darauf kommen, wagt sich ein Großteil der Eltern während des dritten Schuljahrs an die weihnachtliche Aufklärung. Vielleicht, weil es einem Vertrauensbruch näherkäme, wenn man es von Außenstehenden erfährt. Vielleicht, weil man sein Kind vor dem Gespött bereits erleuchteter Schulhofkollegen bewahren möchte. Oder aber einfach nur, weil man das Geschenke- und Dankesmanagement künftig etwas pragmatischer gestalten möchte. Die Reaktionen sind denkbar unterschiedlich. Von „Doch, den gibt’s wohl!“ bis „Pff, weiß ich eh schon!“ ist alles möglich. Der Übergang von Glaube zu Brauchtum erfolgt in der Regel mit vorsichtigen Schritten und nur selten mit einer Bruchlandung. So können sich die meisten Erwachsenen an den Moment der Wahrheit nicht mehr erinnern. Erst wusste man, dass es ihn gibt. Dann weiß man, dass es ihn eben nicht gibt. Traumatische Erfahrung? No-ho-ho. Manchen mag es sogar mit Stolz erfüllen, nun endlich zu „den Großen“ zugehören, die Bescheid wissen. Und man munkelt, dass der eine oder die andere nur weiter mitspielt, damit die Eltern nicht enttäuscht sind, weil doch ein Stückchen des Zaubers damit verloren geht.

Fragen wir den Weihnachtsmann doch am besten einmal selbst, wie er die Lage bewertet. Sein bürgerlicher Name lautet Jannik Bonnecke, er ist 24 und lebt derzeit in Leipzig. Als ein Freund von ihm 2016 einen Weihnachtsmannservice gründete und Helfer brauchte, sprang Jannik ein – mit Kissen für den dicken Bauch und einem goldenen Buch, in dem Informationen zu den Familien standen, die er reihum besuchte. „Mithilfe dieses Buches konnte ich alle direkt ansprechen, was erheblich zu meiner Glaubwürdigkeit beigetragen hat. Ich glaube dennoch, dass es einige Skeptiker gab. Vor allem wenn die Kinder schon etwas älter waren. Die älteren Geschwistern haben jedoch häufig super mitgespielt, um den jüngeren ein unvergessliches Erlebnis zu ermöglichen. Es hängt aber auch stark von den jeweiligen Eltern ab. Einige haben es toll unterstützt und alles optimal vorbereitet, andere Eltern haben mir hingegen meinen Auftritt sehr schwer gemacht, indem sie mir das Trinkgeld zum Beispiel in Anwesenheit der Kinder übergaben.“ An den Zeitpunkt seiner eigenen Weihnachtsmannaufklärung kann er sich nicht erinnern, wohl aber an einen Weihnachtsmannbesuch aus seiner Kindheit: „Als wir noch klein waren, hat an Heiligabend unsere Nachbarin als Weihnachtsmann verkleidet an der Tür geklingelt. Meine Schwester (damals ungefähr 6) hat die Tür geöffnet und einen solchen Schreck bekommen, dass sie sofort über die Treppe nach oben geflüchtet ist – unsere Eltern hatten das wohl anders geplant.“ Jannik kann sich trotzdem vorstellen, wenn er einmal selbst Kinder hat, einen Weihnachtsmann aus dem Bekanntenkreis zu rekrutieren. Es ist eben – so oder so – ein besonderes Erlebnis.

2020 hat uns noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig es ist, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Vielleicht verschieben wir unser Vorhaben, dem Nachwuchs die Illusion zu nehmen, auf das nächste Fest und bleiben vorerst dabei: Die Ähnlichkeit von Santa Claus und Nachbar Claus ist reiner Zufall. Hilfreich ist hier die Tatsache, dass heute fast alles an die Haustür geliefert wird. Mama und Papa müssen also nicht mehr unbedingt den Nachwuchs verabreden, um „heimlich“ ins Shoppingcenter zu fahren. Da wäre also schon mal kein Verdacht zu schöpfen. Doch wenn es einmal raus ist, ist es raus. Apropos: „Wenn ihr der Weihnachtsmann seid, seid ihr dann auch die Zahnfee?“

Foto: Zarya Maxim

Tina Ott
Autorin Tina Ott ist seit vielen Jahren für die verschiedenen Magazine des Rönne Verlags im Einsatz – und immer wieder begeistert, was für interessanten Menschen man bei Reportagen oder Interviews in unserer Region begegnet.